Tristan und Isolde

Die Abbildung der beliebtesten mittelalterlichen Liebesgeschichte an der Banklehne des Rathauses weist darauf hin, dass diese Geschichte auch Tallinner Ratsherren ansprach. Die auf der keltischen Mythologie basierende Geschichte über den tapferen Ritter Tristan und Königin Isolde wurde im Mittelalter durch die Ritterliteratur bekannt. Die Ritterkultur brachte die Verherrlichung der Liebe in einer Zeit mit sich, in der die Ehe ein Geschäft zur Verbesserung der gesellschaftlichen Position und zur Vermehrung des Reichtums darstellte – dies war auch in Tallinn üblich, wo Kaufleute den Grundstein für ihre Karriere legten, indem sie die Tochter des Ratsherrn oder eine Witwe heirateten. Liebe war nur ein Traum – begehrenswert, aber unrealistisch. Die Liebesgeschichte von Tristan und Isolde bezauberte mittelalterliche Menschen wahrscheinlich deshalb, weil die Verliebten wegen der Liebe alle damaligen gesellschaftlichen Regeln ignorierten, sowohl ihren König, den Ehemann als auch Gott verratend. Wie für das Zeitalter charakteristisch, brachte die irdische Liebe für die Verliebten Schmerz und Leid und endete tragisch, die Liebenden konnten erst im Himmel, vor Gottes Angesicht zusammen sein.

Tristan und Isolde treffen sich unter dem Baum

Bei der Darstellung der Liebesgeschichte von Tristan und Isolde war das beliebteste Erkennungszeichen das Treffen der Liebenden unter einem Baum am Brunnen oder an der Quelle. Zwischen den Zweigen lauert König Marke, der die Liebenden verdächtigt und sie dort abhört. Im Wasserspiegel bemerken die Liebenden aber das Gesicht des Königs und begreifen, dass sie entdeckt waren. Isolde täuscht durch eine List erneut den König. Dieses Motiv stellt ein Liebesdreieck dar, welches sich gewöhnlich auch in der Komposition des Bildes widerspiegelt. Zum Opfer der Leidenschaft sind hier beide Männer geworden. Ritter Tristan hat wegen der Liebe seine Ritterehre verloren und den Treueschwur gegenüber seinem Herrn gebrochen – statt dem König diente er dessen Frau. König Marke aber hat seine königliche Würde verloren, weil er sich zum eifersüchtigen Ehemann demütigte, der auf einem Baum seine Frau und seinen Vasallen belauerte.

Die Szene des Treffens weist auch auf Isoldes List hin. Wenn Isolde unter dem Baum im Namen Gottes schwört – wissend, dass der Ehemann sie hört –, dass sie nie einen anderen Mann geliebt hat außer dem, der ihr die Jungfräulichkeit genommen hat, dann scheint es, dass Isolde nicht nur ihren König und Ehemann, sondern auch Gott überlistet. Also ist es kein Wunder, dass dieses Bild – Treffen von Tristan und Isolde unter dem Baum – am häufigsten gerade in Privaträumen von Frauen als Verzierung von Schmuckkästchen, Spiegeln und anderen luxuriösen Schmucksachen vertreten ist. Deshalb konnten sich hier ein geheimer Traum von der Liebe und die Gleichstellung von sich selbst mit Isolde, einer reizenden und listigen Frau verstecken.

Tristan und Isolde als Adam und Eva

Ein wesentlicher Grund, warum gerade aus diesem Motiv das Erkennungszeichen der Liebesgeschichte von Tristan und Isolde wurde, ist die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Sündenfall Adams und Evas unter dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. So bestätigte die Kirche dies als Symbol der irdischen und sündigen Liebe im Gegensatz zur göttlichen Liebe (d.h. zur Liebe zu Gott). Isolde ist hier das Symbol für Eva, der weiblichen Verführung, und das Gegenteil zur Jungfrau Maria als Symbol für Nüchternheit. Solche Gegensätzlichkeit bei der Darstellung der Frau war für das Mittelalter sehr charakteristisch.

Geschichte von Tristan und Isolde

Von dieser Geschichte sind hunderte Versionen bekannt, aber grundsätzlich ist der Inhalt der Folgende.

Am Hof von König Marke in Cornwall dient der tapfere Ritter Tristan, der Neffe des Königs. Cornwall wird aber von Iren belästigt, die Tribut fordern. Einmal, als die Iren unter Leitung von Morold, dem Bruder der irischen Königin, wiederkommen, um Tribut zu verlangen, stellt sich ihnen Tristan zum Kampf entgegen und tötet deren Anführer in der Schlacht. Ein Bruchstück von Tristans Schwert verbleibt aber in Morolds Kopf. Als Morold nach Irland zurückgebracht wird, findet die Königstochter Isolde im Kopf des Helden dieses Bruchstück und versteckt es, dem Mörder ihres Onkels Rache schwörend.

In der Schlacht wird auch Tristan von einer vergifteten Speerspitze tödlich verwundet und in einem Boot ohne Segel zum Sterben aufs Meer gesandt. Das Boot treibt aber an die Küste Irlands, wo die Königstochter Isolde (in manchen Versionen die Dienerin des Königs) Tristan heilt. Tristan verrät seine Herkunft nicht und fährt zurück nach Cornwall. Isolde hat aber das fehlende Stück an Tristans Schwert bemerkt und weiß, dass Tristan der Mörder ihres Onkels ist.

Einige Zeit später sendet König Marke Tristan nach Irland, um Isolde als Braut des Königs zu holen. Der irische König verspricht, Isolde demjenigen zur Frau zu geben, der den Drachen tötet, der Irland verwüstet. Tristan kämpft mit dem Drachen, tötet ihn und gewinnt Isolde für König Marke zur Frau. Auf dem Rückweg nach Cornwall bietet die Dienerin Tristan und Isolde im Boot versehentlich den Liebestrank zur Durstlöschung, welchen die Königin für Isolde und König Marke zubereitet hatte. Tristan und Isolde verlieben sich und ihre verrückte Leidenschaft kann auch durch Gewissensbisse gegenüber König Marke nicht gestoppt werden. Um ihr Geheimnis nicht zu lüften, bittet Isolde ihre Dienerin, statt ihr mit König Marke die Hochzeitsnacht zu verbringen.

Am Hof bleibt die Leidenschaft zwischen Tristan und Isolde nicht unbemerkt und der König schöpft wegen der Klatscherei Verdacht. Immer wieder gelingt es den Verliebten zu entkommen und den Verdacht des Königs zu vertreiben, bis der eifersüchtige König Marke einmal entscheidet, selbst eine Bestätigung der Untreue zu bekommen. Er versteckt sich auf einem Baum an der Quelle (in unterschiedlichen Versionen auch am Bach oder am Brunnen), wo sich Tristan und Isolde treffen. Tristan aber bemerkt die Widerspiegelung des Königs im Wasser und gibt auch Isolde darüber ein Zeichen. Die Liebenden sprechen danach über ihre Liebe und Treue zum König und darüber, wie sie die Verdächtigungen des Königs quälen. Isolde schwört im Namen Gottes, dass sie nie einen anderen Mann geliebt hat außer dem, der ihr die Jungfräulichkeit genommen hat. Tatsächlich log sie nicht vor Gott, jedoch gelang es ihr, den König wieder zu täuschen.

Einmal gehen die Liebenden aber doch in eine für sie aufgestellte Falle. Als der König auf einer Reise ist, streut sein Diener Mehl im Schlafzimmer vor das Bett Isoldes. Tristan springt über das Mehl, aber eine Wunde an seinem Fuß reißt auf, Blut tropft auf den Fußboden und hinterlässt eine verräterische Spur vor dem Bett. Der König verurteilt die Treulosen zum Tode. Auf dem Weg zum Hinrichtungsplatz gelingt es Tristan zu entkommen, als er um die Möglichkeit bittet, zum letzten Mal in einer Kapelle auf dem Felsen zu beten, und springt von dort ins Meer. Er rettet Isolde, die statt des Scheiterhaufens zu den Aussätzigen geschafft wurde. Die Liebenden flüchten in den Wald. Später findet König Marke sie einmal im Wald schlafend, ein blankes Schwert zwischen den beiden. Der König hält dies für den Beweis der Unschuld und lässt ihnen als Zeichen der Versöhnung seine Handschuhe, sein Schwert und seinen Ring. Die Liebenden flüchten zuerst, aber entscheiden dann, sich mit dem König zu versöhnen. Tristan bringt Isolde zu Marke zurück und bleibt selbst im Wald.

Am Hof fordern Neider, dass Isolde eine Feuerprobe zum Beweis ihrer Unschuld bestehen sollte. (Die Feuerprobe, d.h. das Verbrennen mit einem heißen Eisen, eine Wasserprobe mit kochendem Wasser u.a. qualvolle Prozeduren waren im Mittelalter eine gewöhnliche Weise, um Schuld oder Unschuld zu beweisen, das sog. Urteil Gottes zu erfahren – einen Unschuldigen musste Gott durch ein Wunder schützen und vor der Qual retten.) Isolde sendet Tristan ihr Wort und bittet ihn, sich als Pilger zu verkleiden, der am Bach Isolde in seinen Arm nehmen soll, um sie durch den Bach zu bringen. Bei der Feuerprobe bestätigt Isolde, dass sie nie ein anderer Mann in den Armen hielt als König Marke und dieser arme Pilger, der sie durch den Bach trug. Das Eisen verbrennt Isolde nicht und wiederum haben die Liebenden den König überlistet. Tristan und Isolde treffen sich weiter, aber letztlich geht Tristan fort.

Er reist umher und vollbringt Heldentaten. Endlich erreicht er die Bretagne, wo er dem König hilft, den Feind zu überwinden. Der Herrscher Bretagnes gibt seine Tochter Isolde Weißhand Tristan zur Frau. Tristan heiratet sie wegen ihre Schönheit und des Namens, kann sie aber nicht lieben. Isolde Weißhand erfährt, dass der Grund dafür Tristans Liebe zu einer anderen, der Schönen Isolde ist.

In einer weiteren Schlacht tapfer kämpfend wird Tristan erneut durch einen tödlichen Giftpfeil verwundet. Er weiß, dass ihn nur seine Geliebte, die Schöne Isolde heilen kann. Tristan sendet Isolde sein Wort und bittet sie, zu ihm zu kommen. Als Zeichen dafür, dass Isolde auf dem Schiff ist, sollte das Schiff ein weißes Segel hissen. Wenn Isolde nicht an Bord ist, soll ein schwarzes Segel gehisst werden. Isolde kommt, um ihren Geliebten retten, aber die eifersüchtige Isolde Weißhand lügt den im Bett liegenden Tristan an, dass das Schiff ein schwarzes Segel hat. Tristan stirbt vor Kummer. Als Isolde ankommt, stirbt auch sie vor Verzweiflung. König Marke begräbt sie und auf ihrem Grab wachsen zwei Bäume, deren Zweige sich untrennbar miteinander verflochten haben.

Tristan gegen Simson und David

An der Banklehne gegenüber der Szene des Treffens von Tristan und Isolde wird Simson aus dem Alten Testament bei der Demonstration seiner Kraft dargestellt. Sowohl Tristan als auch Simson kämpften, um die Freiheit des eigenen Volkes und fielen wegen der Liebe zu einer Frau aus dem Volk des Feindes. Das Bild des mit dem Löwen kämpfenden Simsons ist sehr ähnlich mit dem des den Drachen besiegenden Tristans. Diese Szene wird in der Kunst öfters als Symbol für die Tapferkeit Tristans dargestellt. Für das berühmteste Beispiel kann das Fresko des Schlosses Runkelstein aus den 1390er Jahren (im italienischen Tirol) gehalten werden.

Tristan, der Cornwall vom Joch der Iren befreite, ist auch mit David verglichen worden, der das Volk Israels von den Philistern befreite. Sowohl Tristan als auch David sündigten mit der Frau eines anderen Mannes – Ritter Tristan mit Isolde, der Frau seines Königs, und David mit Bathseba, der Frau seines Soldaten Urija.