Aristoteles und Phyllis
Das beliebteste Beispiel über die verderbende Kraft der Liebe war der altgriechische Philosoph Aristoteles, der der Anmut der schönen Phyllis nicht widerstehen konnte und sich zum Beweis der Leidenschaft der Frau als Reitpferd unterwarf. Wenn Simson aus dem Alten Testament die physische Kraft des Mannes symbolisierte, dann war Aristoteles, welcher im Frühmittelalter vor allem als Vater der Logik bekannt war, zum 13. Jh. für die Menschen des Mittelalters zur Verkörperung der weltlichen Klugheit geworden. Kirchlich wäre es schwierig gewesen, eine bessere Warnung zu finden.
Die Geschichte von Aristoteles und Phyllis
Die Geschichte wurde im 13. Jh. vor allem durch die Erzählung in Versen vom französischen Troubadour Henri d’Andeli (oder Henri de Valenciennes) bekannt. Gleichzeitig kam die Geschichte von Aristoteles auch vor deutsches Publikum und auf Deutsch wurde die Frau, die den klugen Gelehrten verführte, zum ersten Mal Phyllis genannt. Die Quellen der Geschichte stammen aber wahrscheinlich aus Indien und aus arabischen Ländern, wo die philosophischen Werke von Aristoteles eifrig übersetzt und erforscht wurden und von wo diese im 13. Jh. zurück nach Europa gelangten. In Arabien war eine Geschichte über einen Wesir des Sultans bekannt, der sich von einer schönen Frau verführen und auf sich reiten ließ. In der europäischen Version wurde aus dem Höfling des Sultans Aristoteles, Vater der Wissenschaft und der Klugheit sowie Lehrer von Alexander dem Großen, dem einflussreichen westlichen Herrscher.
Phyllis tritt in verschiedenen Versionen der Geschichte als Geliebte oder Frau von Alexander auf, die vom Herrscher so viel Zeit und Aufmerksamkeit verlangt, dass er Staatsangelegenheiten vernachlässigt. Aristoteles weist Alexander zurecht, indem er ihn vor der gefährlichen Wirkung der Liebe und der Frauen warnt, und der junge Herrscher gehorcht ihm. Die schöne Phyllis kommt aber bald dahinter, dass an Alexanders Gleichgültigkeit sein Lehrer Aristoteles schuld ist. Die Frau beschließt, sich am alten Philosophen verführend zu rächen. Die Schöne schmückt sich, lässt ihre Haare offen und geht unter das Fenster von Aristoteles lüstern tanzen. Aristoteles sieht die bezaubernde Frau und in ihm erwacht die Begierde. Er bekennt gegenüber Phyllis seine Leidenschaft und ruft sie zu sich. Phyllis verspricht, seinen Wunsch zu erfüllen, aber zuerst muss Aristoteles seine Liebe beweisen und eine kleine Kaprice von Phyllis erfüllen: Der alte Mann soll auf allen Vieren kriechen und zum Reitpferd von Phyllis werden. Aristoteles ist zu allem bereit, um seine Begierde zu befriedigen. So sattelt Phyllis den alten Philosophen, zieht ihm die Zügel über den Kopf und setzt sich auf seinen Rücken. Sie nimmt die Zügel in die Hand und reitet auf Aristoteles im Garten herum. Das Lied von Phyllis gibt Alexander das Zeichen zu erscheinen, um diesen merkwürdigen Anblick zu sehen. Wieso steht die Handlungsweise des Lehrers seiner Lehre so entgegen? Die Erklärung von Aristoteles ist die Moral dieser Geschichte: Wenn solch ein alter und kluger Philosoph wie ich dem Charme und der Liebe einer Frau nicht widerstehen kann, was für eine Gefahr stellt die Frau dann für einen jungen Mann dar?
"Kluger Mann und dumme Weib" in der mittelalterlichen Kunst
Bekannterweise war die Geschichte ein beliebtes Thema in geistlichen Predigten als ein Beispiel von der Ergebenheit der weltlichen Klugheit gegenüber der irdischen Liebe. Philosoph Aristoteles, das Symbol für menschlichen Verstand und Klugheit ist hier zum Opfer seiner tierischen Instinkte geworden. Die Abbildung von Aristoteles und Phyllis ist in den Kirchen sehr beliebt: An Säulenkapitellen (Kathedrale von Lyon und Kloster Cadouin in Frankreich), am Chorgestühl (Kirche des Klosters Montbenoit) sowie an deren Miserikordien (Kathedrale von Rouen in Frankreich, Kathedrale von Plasencia in Spanien, Kirche von Hoogstraten in Belgien) und ebenso auf Bildteppichen (im Dominikaner-Nonnenkloster in Freiburg).
Die Tatsache, dass Aristoteles Frauen für physisch wenig entwickelte Geschöpfe ohne analytisches Denken hielt, gibt der Geschichte Würze. Nach Aristoteles war die Frau von Natur aus dem Mann unterworfen. Phyllis Geschichte dreht dieses Machtverhältnis sowohl im direkten als auch übertragenen Sinn um. Das Reiten bedeutet Macht und Herrschen, auf Französisch bezeichnet chevalier bzw. Ritter einen Pferdemann, einen Reiter. Der athletische Ritter mit Schwert und Speer auf dem Pferd ist aber auch die Allegorie der männlichen körperlichen, darunter sexuellen Befähigung – der Mann als Herrscher und führende Seite. Außer den umgekehrten Geschlechterrollen macht die Geschichte auch die Unterwerfung des grauköpfigen Gelehrten sowie die für sein Alter unpassende erotische Leidenschaft eines jungen Mannes lächerlich. So ist es auch kein Wunder, dass die Abbildungen der Geschichte von Aristoteles und Phyllis zahlreich auf Schmuckkästchen aus Elfenbein der adligen Damen zu finden sind, welche das Geheimnis deren Besitzerinnen darüber verbargen, in wessen Hand die Macht eigentlich ist und wie man Männer unterwirft.
Aristoteles und Phyllis (wie auch Simson mit dem Löwen) werden auch an Wassergefäßen niederländischer Herkunft aus dem 14. Jh. dargestellt. (Wassergefäß von Brüssel)
In Rathäusern warnten die Abbildungen von Aristoteles und Phyllis (z.B. der Bildteppich im Regensburger Rathaus) natürlich Ratsherren, die Herrscher der Stadt vor Verliebtheit und deren Folgen, vor welchen sogar die ältesten, würdigsten und klügsten nicht geschützt sind.
Außer Aristoteles war der römische Poet Vergil aus der Antike ein beliebtes Beispiel, der nach der Legende in einen Turm zu einer schönen Frau gehen wollte und dafür den Korb bestieg, um hochgezogen zu werden. Die Schöne ließ ihn aber im Korb hängen. Eine diese Szene darstellende Schnitzerei ist in Tallinn an einer Chorbank in der Kirche des Heiligen Geistes erhalten geblieben, die im Mittelalter die Ratskapelle war und wo regelmäßig Ratsversammlungen durchgeführt wurden.