Die Gestühle des Tallinner Rathauses

Die älteste Bank im Ratssaal, die mit niedrigeren Seiten, wurde im 14. Jh. für die damalige Rathauskammer im Erdgeschoss angefertigt. Im Rechnungsbuch des Rathauses aus den Jahren 1363–1374 gibt es dazu zwei Einträge: Für die Anfertigung der Bank wurde dem Tischler 1 Mark [1] und dem Schnitzer 16 Öre [2] gezahlt. Also gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Bänke in Tallinn vor Ort, und möglicherweise von örtlichen Meistern angefertigt wurden. An einer Seite der Bank sehen wir Tristan und Isolde, die sich unter dem Baum treffen und an der anderen Simsons Kämpf mit dem Löwen, die beide fein geschnitzten sind.

Als 1404 das neue Hauptgeschoss fertig gestellt war, wurde die alte Bank nach oben in den neuen Ratssaal gebracht. Speziell für die Bürgermeister wurde noch eine Bank mit hohen Seiten angefertigt, die an einer Seite durch Simson und Delila sowie Aristoteles und Phyllis und an der anderen Seite durch David und Goliat mit dem Löwen und dem Bären verziert wurde.

Zusammen bilden diese zwei Bänke im Ratssaal ein ideelles Ganzes. Das auf diesen Dargestellte drückt die Grundsätze des Rats aus, wie es dem Zeitalter eigen war, und nach der letzten damaligen Mode. Die Ratsherren, die alle auch erfolgreiche Hansekaufleute waren, nahmen sich ein Vorbild an den westeuropäischen Städten, welche sie bei Handelsreisen gesehen hatten. Die Hanse war nicht nur ein einheitlicher Handelsraum, sondern auch ein Kulturraum. Diese Beziehungen trugen dazu bei, dass die europäische Kultur und Modeströmungen schnell nach Tallinn gelangten.

In der heutigen europäischen Kunstgeschichte sind die Bänke des Tallinner Rathauses aber nicht besonders bekannt, weil Estland nach dem II. Weltkrieg von der Weltkarte verschwand und westeuropäische Kunstwissenschaftler nicht hinter den Eisernen Vorhang gelangen konnten. So ist z.B. in einer der gründlichsten, in München in 1975 veröffentlichten Sammlung über die Darstellung von Tristan in der Kunst („Katalog der Tristan-Bildzeugnisse”, Norbert Ott) irrtümlich angegeben, dass die Bank des Tallinner Ratshauses mit Tristan und Isolde im Krieg zerstört wurde. Wahrscheinlich ist der II. Weltkrieg gemeint, als bei einem Luftangriff der sowjetischen Truppen viele Gebäude der Altstadt zerstört wurden, darunter in der unmittelbaren Nähe des Rathauses, aber das Rathaus wurde nicht wesentlich beschädigt. Da auf dem genannten Werk viele westliche kunstwissenschaftliche Untersuchungen basieren, sind Tristan und Isolde des Tallinner Rathauses auch nicht in diesen genannt. Auch die Tatsache, dass Tallinn bis 1918 den Namen Reval trug, stiftet Verwirrung. So ist die Skulptur des Tallinner Rathauses im gründlichsten Verzeichnis der Aristoteles und Phyllis darstellenden Kunstwerke in der deutschen Wikipedia in der Liste der in Deutschland befindlichen Kunstwerke unter dem Namen Reval aufgelistet.

[1] Etwa ¼ vom Jahreslohn eines Ratsdieners im 14. Jh.

[2] 16 Öre = 1/3 Mark. Dafür bekam man im 14. Jh. ein Fass bestes Bier oder einen halben Ochsen.